
Bewusstseinsübungen
Der Mensch mag tun und leiden, was es auch sei, er besitzt immer
und unveräußerlich die göttliche Würde
Christian Morgenstern
Gedichte und Aussagen von gelehrten Persönlichkeiten in die eigenen Aufmerksamkeit zu nehmen, ist eine spannende und anregende Möglichkeit der Bewusstseinsschulung.
In einem ersten Schritt wird das Gedicht mit ruhiger, wacher, regsamer Aufmerksamkeit gelesen.
Dies kann mehrfach hintereinander erfolgen. Ohne Bewertung sollte dies geschehen. Sympathie oder Antipartie zu den Worten, stellen sich vielleicht gleich ein. Dem braucht aber erst einmal nicht allzu viel Aufmerksamkeit zugesprochen werden.
In einem zweiten Schritt werden die Worte gedanklich wiederholt, bis man sie auswendig kann. Dabei ist es wichtig, dass die Worte nicht einfach nur rezitiert werden, bis man sie „herunterleiern“ kann.
Vielmehr werden die Worte lebendig und neu aufgebaut, bis der Übende sie wie vor sich hinzustellen vermag. Der Übende erschafft die ursprüngliche Worte neu, ohne die eigenen Gedanken, Stimmungen oder Interpretationen hinein zu geben. Der Übende tritt den Worten in einer klaren Beziehung gegenüber, die Worte können so unbefangen betrachtet und angeschaut werden.
In einem dritten Schritt kann das Gedicht mit einigen konkreten Fragen angeschaut werden
welche Wortarten werden gebraucht? - Adjektive, Verben, Substantive,…
wie sind die Begriffe gewählt und welche Beziehung nehmen sie untereinander ein?
Welchen Klang, welche Tonart schlägt das Gedicht an? - leicht, schwer, melancholisch, ernst, mahnend, sanft, lieblich, hoffnungsvoll, freudig, ….
wie ist die wesentliche Aussage?
ist die Aussage wahr? dies muss vielleicht nicht absolut beurteilt werden, kann aber als Frage mit in die Betrachtung hinein genommen werden.
Welches Motiv könnte der Aussage zugrunde liegen?
Und schließlich sollte auch der Autor selbst gedanklich mit einbezogen werden. In den Worten ist auch immer ein Teil derjenigen Persönlichkeit enthalten, der die Worte niedergeschrieben hat. Ein Text ist ohne seinen Autor gar nicht denkbar. So könnte z.B. die Fragen gestellt werden in welcher Zeit der Dichter gelebt hat, welche gesellschaftlichen Umstände, welches Menschenbild können ihn geprägt haben?
Diese Fragen sollten nicht alle auf einmal eine Aufmerksamkeit erhalten, sondern einzeln und schrittweise über die Tage zu der gedanklichen Aktivität der ersten beiden Schritte mit hinzugenommen werden.
Auch ist es natürlich möglich, die Fragen nach eigener Phantasie zu ergänzen.
Die Fragen dienen als Hilfsmittel, um in offener, ruhiger, konkreter und geführter Aufmerksamkeit das Gedicht zu betrachten und die Worte so zusagen „für sich selbst sprechen zu lassen.“
Eine rhythmische Wiederholung über mehrere Tage erscheint empfehlenswert. Auch eine anfängliche, kurze Aufmerksamkeit zum eigenen Körper, dem Atem und der eigenen Stimmungslage ist empfehlenswert. Das Bewusstsein findet so leichter in die geführte Konzentration hinein.

Christian Morgenstern (06.Mai 1871 - 31.März 1914) war ein deutscher Dichter, Schriftsteller und Philosoph.
Er war ein Zeitgenosse Rudolf Steiners, mit dem ihm eine tiefe und inspirierende Freundschaft verband.
Morgensterns Lyrik ist häufig humoristisch, aber auch von einer Auseinandersetzung mit Spiritualität und den Sinnfragen seiner Zeit geprägt.